Die traurige Geschichte von Herrn Sorgenreich, die zum Glück gut endet
Eine Kindergeschichte auch für Erwachsene
Kapitel 1 – Herr Sorgenreich sorgt sich beim Aufwachen
Herr Sorgenreich sieht alt aus. Das liegt vor allem an den vielen Falten im Gesicht. Dabei ist Herr Sorgenreich erst dreißig Jahre alt beziehungsweise jung. Leider sah er schon sehr alt aus, als er noch sehr jung war. Das liegt an den vielen Sorgen, die er sich schon als Kind – ja, sogar schon als Kleinkind und sogar schon als ganz kleines Kind, als Baby nämlich – gemacht hat. Ständig legte er die Stirn in Falten, krauste die Nase, zuckte mit dem Mund, senkte die Mundwinkel nach unten. So ist das auch heute noch.
Jeden Tag macht sich Herr Sorgenreich Sorgen. Solange er denken kann - also beinahe von Anfang an - solange er lebt, ist das so. Schon immer und ewig macht er sich Sorgen. Von morgens bis abends. Von früh bis spät.
Heute zum Beispiel sorgt er sich schon beim Aufwachen. Das ist typisch für ihn.
Es ist und war also kein Wunder. Das mit dem Aussehen. Das mit dem Altaussehen. Das mit den vielen Falten im Gesicht. Na, ihr wisst schon.
Wenn Herr Sorgenreich wissen würde, was ihr wisst, woran es nämlich liegt, das mit dem Altaussehen, er würde sich lieber und besser weniger Sorgen machen. Aber er weiß es nicht und also sorgt er sich weiter.
Dreht sich um, wenn er aufwacht, und sorgt sich.
Öffnet die Augen, nachdem er aufgewacht ist, und sorgt sich.
Beschließt, noch ein Weilchen im Bett zu bleiben.
Hier kann wenig passieren, denkt er sich und dreht sich – leicht besorgt - noch einmal um. Wechselt beunruhigt die Seitenlage. Andere Menschen würden dies beruhigt und zufrieden tun, Herr Sorgenreich nicht. Denn: Passieren kann natürlich schon etwas. Auch im Bett.
Zum Beispiel das Folgende: Ein Bein könnte abbrechen. Dabei denkt Herr Sorgenreich keine Sekunde lang an sein eigenes Bein. Weder an das eine noch an das andere seiner beiden Beine. Das eigene Bein könnte zwar brechen, aber wohl kaum abbrechen, denkt er.
Wäre Herr Sorgenreich nicht Herr Sorgenreich, hätte er jetzt geschmunzelt. Aber Herr Sorgenreich schmunzelt nicht. Herr Sorgenreich schmunzelt nie. Warum nicht? Na, einfach deshalb nicht, weil er Herr Sorgenreich ist. Und zwar er selbst und höchstpersönlich. Beinahe hätte er sich im Bett aufgerichtet. Aber nur beinahe. Still bleibt er liegen und sorgt sich.
Während Herr Sorgenreich also frühmorgens oder auch noch später am Morgen im Bett liegt, sich sorgt und jetzt und später beschließt, noch ein Weilchen liegen zu bleiben, denkt er nach. Er denkt über den Bettbeinabbruch nach. So etwas könnte tatsächlich passieren. Es ist sogar wahrscheinlich. Ein Bett hat immerhin vier und nicht nur zwei Beine wie Herr Sorgenreich.
Also ist es sogar ziemlich wahrscheinlich, dass eines der vier Beine brechen und abbrechen könnte. Da muss man nur eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufstellen und schon ist die Sache klar. Um die Sache zu klären, müsste Herr Sorgenreich allerdings ein mehrstufiges Zufallsexperiment durchführen. Doch für so etwas ist es für ihn jeden Morgen zu früh am Morgen. Das sagt er kategorisch nein zu sich selbst und schüttelt den Kopf.
Also wird Herr Sorgenreich niemals wissen, niemals
bewiesen
wissen, ob wirklich ein Bettbein abbrechen würde, wenn er mehrfach nacheinander aufstehen würde. Mehrfach nacheinander aufstehen… Immer wieder aufstehen, hinlegen, aufstehen… Nein, das war ihm
viel
zu anstrengend. Also bleibt er liegen. Und das so lange wie möglich.
Doch irgendwann muss auch ein Herr Sorgenreich das Bett verlassen. Nicht nur, weil er auf die Toilette gehen muss, wie ihr vielleicht jetzt denkt. Oder weil er Hunger hat und sich deshalb Frühstück machen muss. Der Grund ist ein anderer.
Herr Sorgenreich hat einen Beruf. Er könnte froh darüber sein. Aber er ist es nicht. Er ist leider nie froh.
Misstrauisch ist Herr Sorgenreich. Misstrauisch und missmutig. Mal ist er fürchterlich ängstlich, manchmal nur ein bisschen verschreckt. Mal ist er recht griesgrämig, mal sogar ziemlich grimmig, mal mehr oder weniger verärgert, mal mehr oder weniger zornig, mal schimpft er oder zetert gar. Nie ist Herr Sorgenreich für ein Späßchen zu haben. Das werden wir ändern müssen. So geht es nicht weiter mit Herrn Sorgenreich.
Dies ist der Anfang der traurigen Geschichte von Herrn Sorgenreich. Derzeit arbeite ich an der Fortsetzung bis hin zum Ende der Geschichte. Was am Ende daraus wird, ist offen.
Florenz II
Woher kommst du, Tourist? - Aus Deutschland? - Ah, aus Norddeutschland! - Aus Lübeck!
Vielleicht hättest du sagen sollen, du kommst aus Hamburg. Oder du hättest gesagt, du kommst aus München. Der Glanz in den Augen deines italienischen Gegenübers bewiese es: München ist die Stadt, aus der ein Deutscher kommen muss. Bavaria. BMW. Bayrisches Bier. Aber du bist aus Lübeck und die Augen deines Gegenübers bleiben stumm.
Schon mal in Lübeck gewesen? - oh ja, Marzipan! - Aber man merkt es dem Florentiner an, das bayrische Bier kennt er auch und es gefällt ihm besser.
Norddeutschland ist kalt, nickt dein Gegenüber, und du schaust in den blauen italienischen Himmel und weißt, es gibt keine Gemeinsamkeit. Deine Liebe zu Deutschland versteht er nicht.
Du könntest ihm sagen, wie italienisch du fühlst, aber er würde es dir nicht glauben, also lässt du es.
Du könntest ihm erzählen, dass du den deutschen Winter liebst, aber dir fällt ein, es gab schon lange keinen mehr. Keinen mit Schnee und Schlittenfahrt und weißer Weihnacht.
Und über dir steht dieser wolkenlose Himmel und um dich ist dieses leichtfüßige Leben. Was ist dagegen ein norddeutscher Winter.
Dein Gegenüber pfeift ein Lied, sieht dich an und seine Augen werden ganz klein.
Hat deine Gedanken gesehen und schlägt dir auf die Schulter. Du guter Deutscher! - Ja, ich guter Deutscher. Ich liebe mein Land - und deine Heimat.
Manchmal hasse ich mein Land, weißt du, sage ich zu dem Italiener, das heißt, ich denke es, aber er hört es und nickt.
Manchmal möchte ich sein wie du, sage ich nicht, aber denke ich, während ich auf diesen dunklen Schopf blicke, der sich hebt, und in das braune Gesicht und ich beneide ihn um die lange Zeit der Sonne.
Will mich nicht wehren gegen mein Land, bin ihm zugehörig mit ganzer Seele, bäume mich auf mit all meinem norddeutschen Gefühl und finde plötzlich diesen Knoblauchgeruch anrüchig und unfein.
Immer noch kein Gefühl der Gemeinsamkeit, obwohl ich so italienisch fühle und die Menschen verstehe, die hier leben, sogar die Deutschen, die hier leben und ihre Heimat verraten.
Deutschland, das Land mit den Frühlings- und Herbststürmen, das Land mit dem manchmal so herrlichen Sommer, dem bunten Herbstlaub, aufgeweht, hochgewirbelt, dem manchmal so weißen Winter, dem Schnee, der uns ruhig macht.
Ich nicke dem Italiener stolz zu, trinke den Rest Martini.
Zurück zum Hotel, erst einmal ausruhen und dann Italien von neuem erobern mit stürmischem Herzen und einer weiten Sehnsucht, die fast trotzig ist, ein Dennoch-Gefühl. Typisch deutsch.
Ich stehe auf und gehe.
Der Italiener bleibt, streckt die Beine von sich, winkt mir nach.
Was ist mein Wohlstand gegen sein Wohlbefinden.